: The Norwegian Exception?. Norway's Liberal Democracy since 1814. London 2021 : Hurst & Co., ISBN 9781787385603 280 S. £ 20,00

: Sosialdemokrati versus nyliberalisme. Norsk styringskunst og samfunnsforming 1814–2020. Oslo 2020 : Solum Bokvennen forlag, ISBN 9788256023387 362 S. NOK 369,00

Rezensiert für H-Soz-Kult von
Sven Jochem, FB Politik- und Verwaltungswissenschaft, Universität Konstanz

Die norwegische Demokratie wird in vergleichender Perspektive als „Sonderfall“ wahrgenommen. Dort ging eine nationale Identität Hand in Hand mit frühen staatsrechtlichen Liberalisierungen und Demokratisierungsschritten. Auslöser war 1814 die Loslösung Norwegens vom dänischen Königreich (das auf der Seite Napoleons in den Napoleonischen Kriegen stand) und die Abtretung an das schwedische Königreich im Kieler Frieden. Als Reaktion darauf kam es zu einer frühen Verfassungsgebung in Eidsvoll nahe Oslo sowie einer Forderung nach nationaler Selbstbestimmung. Während die nationale Selbstbestimmung nicht unmittelbar durchgesetzt werden konnte – Norwegen blieb bis 1905 Teil des schwedischen Königreichs, allerdings mit durchaus beachtlichen Freiheiten –, blieb das Grundgesetz (grunnlov) von 1814 in Kraft und ist in seinen Fundamenten bis auf den heutigen Tag für die norwegische Verfassung strukturgebend. Damit weist Norwegen eine der ältesten geschriebenen Verfassungen weltweit auf, mit einer beachtlichen Flexibilität über die Jahrhunderte hinweg.

Beide hier zu besprechenden Bücher widmen sich der Aufgabe, diesen norwegischen „Sonderfall“ darzustellen sowie zu erklären. Allerdings nähern sich die Autor:innen dieser Frage auf unterschiedliche Weise. Während das Buch der norwegischen Ideenhistorikerin Mathilde Fasting (beschäftigt bei der liberalen Denkfabrik Civita) und dem norwegischen Historiker Øystein Sørensen von der Universität Oslo einerseits einen klassisch chronologischen Zugang wählt, mit einer Gliederung nach politischen Zäsuren und „Zeitenwenden“, wählt Svein Hammer als von Foucault inspirierter Soziologe, freier Publizist und politischer Aktivist einen Zugang, der andererseits die norwegische Demokratisierungsgeschichte in ein ideologisches Spannungsfeld, in ideengeschichtlich imprägnierte Diskurse und Narrative zwischen Sozialdemokratie und Neoliberalismus verortet. Während das erste Buch damit unterschiedliche Aspekte und Prozesse in einer chronologischen Abfolge methodologisch und theoretisch offen darstellt und analysiert, fokussiert Svein Hammer in seinem Buch die norwegische Geschichte aus einer steuerungstheoretischen Perspektive (in der Tradition von Foucault) und sieht beide Steuerungsparadigmen im Angesicht des Klimawandels als erschöpft an. Während das erste Buch offen die „Einzigartigkeit“ Norwegens mitunter aus einer europäisch vergleichenden Perspektive thematisiert, verbleibt Hammer mit seinen Analysen bei den genuin norwegischen Ereignissen und Zäsuren, ohne explizit oder implizit vergleichende Maßstäbe anzulegen.

Das Buch von Mathilde Fasting und Øystein Sørensen ist ein Standardwerk zur norwegischen Geschichte in englischer Sprache, also mit weltweiter Ausrichtung. Der Leser und die Leserin wird in knappen Unterkapiteln durch die Etappen norwegischer Geschichte nach 1814 geführt, hierbei wird in drei Abschnitten die Nationenbildung (1814-1905), die Zeit der „Moderne“ (1905-1970) sowie letztlich die verbliebene Periode bis in die Gegenwart abgehandelt, die von der Autorin und dem Autor mit der offenen Frage betitelt wird, ob die norwegische Demokratie noch besonders sei.

Inhaltlich werden der Kenner und die Kennerin norwegischer Geschichte auf keine gravierenden Neuigkeiten stoßen. Weder machen die Autorin und der Autor auf neue Quelleninterpretationen aufmerksam, noch wird die Deutung norwegischer Geschichte revolutioniert. Vielmehr handelt es sich um eine sehr gut lesbare und umsichtig formulierte Kurzdarstellung der norwegischen Geschichte. Zu kritisieren ist allenfalls die sehr knappe Verweisarbeit auf die (vorwiegend norwegische und nordeuropäische) Literatur. Dies macht es schwer, einzelne Argumente auf die bisherige Forschung und deren Debatten zu beziehen. Gleichwohl ist dadurch der Lesefluss verbessert. Und es ist sicherlich nicht vermessen zu vermuten, dass für die Autorin und den Autor die breite Bevölkerung als Leserkreis das Ziel war, nicht die geschichtswissenschaftliche Fachgemeinde. Sehr nützlich ist das Stichwort- und Personenverzeichnis, das jedoch differenzierter hätte gestaltet werden können. Kurzum: Wer an einer flott formulierten, kurzen und einprägsamen Darstellung der Geschichte des modernen politischen Norwegens interessiert ist, dem kann dieses Buch ohne Einschränkungen empfohlen werden.

Ist Norwegens Demokratiegeschichte besonders? Und wenn ja, warum? Die Autorin und der Autor lassen uns bei der ersten Frage durchaus ratlos zurück. Wir lernen (erneut), dass die Erfolgsgeschichte der norwegischen Nationenbildung und Demokratisierung nicht nur auf geschicktem strategischen Handeln der politischen Eliten und der durch facettenreiche Volksbewegungen geschulten Öffentlichkeit ruhte, sondern nicht zuletzt auch auf dem Handeln der Nachbarländer, die keine großen militärischen Ambitionen hatten, Norwegen zum Beispiel zu einem „dänischen oder schwedischen Bayern“ zu machen. Hier spielte also auch Glück eine Rolle. Eben dieses Glück kommt auch bei den ökonomischen Rahmenbedingungen ins Spiel. Erst profitierte Norwegens Wirtschaft von der Wasserkraft und billiger Energie, dann kamen noch Erdöl und Erdgas dazu, das „manna from the North Sea“ (Gøsta Esping-Andersen). Der besondere Reichtum Norwegens kann zu einem guten Teil auf diese Glücksfaktoren, aber auch auf kluges politisches Management zurückgeführt werden. Und einerseits arbeiten die Autorin und der Autor überzeugend heraus, dass norwegische Politik doch anders funktioniert als in den – vor allem kontinentaleuropäischen – Nachbarländern (kollektive Entscheidungsfindung, Pragmatismus, nationale Orientierung können als Schlagworte zum Beispiel genannt werden). Aber andererseits werden diese Besonderheiten in jüngster Geschichte immer weniger greifbar. Die Integration des Landes in die Mehrebenenpolitik der EU mit dem Europäischen Wirtschaftsraum und andere Regime der zwischenstaatlichen Politikkoordination und Politikangleichung wirken auch in Norwegen, das zwar nicht Mitglied der EU ist, aber sehr viel von der EU-Gesetzgebung (rasch) aufnimmt. Diese „Inter- und Transnationalisierung“ der norwegischen Demokratie nahm in jüngster Vergangenheit trotz weitgehend intakter Diskurse nationaler Besonderheit deutlich an Fahrt auf.

Und worin liegen die Gründe für die (abnehmende) Besonderheit? Mathilde Fasting und Øystein Sørensen präsentieren der Leserschaft ein schon fast klassisches zirkuläres Argument. Auf der einen Seite funktionierten der Staat, die demokratische Politik und die Verwaltung so gut, weil die Norweger:innen sich und der Politik stark vertrauen würden. Und warum sei das zwischenmenschliche Vertrauen sowie das Institutionenvertrauen in der norwegischen Gesellschaft so stark ausgeprägt? Nun ja, weil der Staat, die demokratische Politik und die Verwaltung gut, korruptionsfrei und transparent funktionieren würden. Ein klassisches Huhn-Ei-Dilemma, ein Rätsel zirkulärer Kausalität, das die Autorin und der Autor nicht wirklich aufzulösen können. Daher verbleibt das Fazit im letzten Teil des Buches eher vage und mit mehr Frage- als Ausrufezeichen versehen.

Aber in einem Punkt machen Mathilde Fasting und Øystein Sørensen das Ende der norwegischen Besonderheiten fest: das Ende des fossilen Zeitalters und das absehbare Ende des Reichtums aus der Nordsee. Denn auch Norwegen ist bemüht, sich im Bereich der Umwelt- und Klimapolitik zu profilieren – und da erscheint es nicht unbedingt glaubwürdig, weiterhin einer der weltweit größten Exporteure von Erdöl und Erdgas zu sein. Just diese „grüne“ Perspektive auf die norwegische Demokratie und Geschichte wird dann in dem (leider nur in norwegischer Sprache) vorliegenden Buch von Svein Hammer unter anderem als thematischer Fluchtpunkt aufgenommen.

Das Buch von Svein Hammer ist für die norwegische Leserschaft geschrieben, im Gegensatz zum Buch von Mathilde Fasting und Øystein Sørensen wird jedoch sehr intensiv mit Verweisen auf die (vorwiegend norwegische) Literatur gearbeitet. Kaum zu übersehen ist seine methodologische und theoretische Verankerung in der Machtanalyse von Foucault. Nach einem theoretischen Einführungskapitel wird zuerst die Herausbildung des „sozialdemokratischen Norwegens“ dargestellt, dann das „neoliberale Norwegen“, dessen schrittweise Entstehung vom Autor in der Nachkriegszeit angesiedelt wird. Während im ersten Abschnitt die Darstellung der machtfokussierten Diskurse eher allgemein chronologisch abgehandelt wird, bedient sich der Autor im zweiten Abschnitt kritischer Fallstudien des neoliberalen Diskurses (Wohnen, Bildung, Umwelt). Als These formuliert der Autor, dass sich beide Narrative erschöpft hätten. Die umwelt- und klimapolitischen Narrative würden neue Steuerungsmodelle in der norwegischen Demokratie notwendig machen.

Svein Hammers Argument ist durchweg dynamisch angelegt. So seien steuerungstheoretische Instrumente des sozialdemokratischen Zeitalters (Nationale Einheit, Arbeiterpartei, Gesellschaftswissenschaft beziehungsweise rationale Planung zum Beispiel) nicht nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges verschwunden. Diese Pfeiler seien jedoch vom neoliberalen Diskurs mit seinen Kennzeichen individueller Freiheit, Marktsteuerung, Konkurrenzprinzip sowie einer grundsätzlich transnationalen Universalität grundlegend umgedeutet worden. In anderen Worten habe der neue Diskurs eine funktionale Transformation bestehender Institutionen und Regeln erwirken können. Dies wird sehr anschaulich in Bezug auf das nationale Projekt Norwegens vom Autor verdeutlicht. Während im sozialdemokratischen Zeitalter die nationale Einheit so gedacht worden sei, dass alle gleichwertig in den nationalen Wohlfahrtsstaat (das norwegische „Volksheim“) inkludiert worden seien, sei das neoliberale nationale Projekt so angelegt, dass alle Bürgerinnen und Bürger, vor allem aber die Eliten und das Königshaus, sich dafür einsetzen sollten, die Konkurrenzkraft und Wettbewerbsfähigkeit Norwegens auf internationalen Märkten zu steigern (S. 313).

Grundsätzlich würden beide ideologischen Narrativen implizit und explizit auf einem Fundament immerwährenden ökonomischen Wachstums gründen. Just an dieser Stelle, argumentiert der Autor, würden sich beide Steuerungsmodelle moderner Gesellschaften vor dem Hintergrund der Umwelt- und Klimakrise zusehends erschöpfen. Während das sozialdemokratische Narrativ auf die Herausforderungen der Umwelt- und Klimakrise durch Verbote und staatliche Investitionen regieren würde, sei die Antwort des neoliberalen Diskurses in marktwirtschaftlichen Steuerungsprozessen und einer marktgetriebenen technologischen Umweltpolitik zu sehen. Er sieht jedoch eine „grüne Transformation“ am Entstehen und fordert sie auch normativ ein, mit der unsere Vorstellungen des „guten Lebens“ ebenso auf den Prüfstand gestellt werden sollten, wie unsere Vorstellungen einer „guten Politik“ beziehungsweise des „guten Wirtschaftens“. Zwar sieht er durchaus die gegenwärtige Politik in Norwegen wie einen Pendelausschlag zwischen sozialdemokratischem und neoliberalem Diskurs, normativ fordert er jedoch eine Neuausrichtung von Politik und Ökonomie, die nicht auf Wachstum als Leitideologie zur Gestaltung der Zukunft setzt – was auch dazu führen würde, die Debatten über das Bruttosozialprodukt als ökonomische Leitfigur zu beenden.

Svein Hammer legt ein inspirierendes Buch über Politik und Wirtschaft Norwegens vor. Es ist fraglich, ob für das Argument tatsächlich notwendig gewesen ist, den historischen Bogen bis zurück nach 1814 zu spannen. Ebenso sollte der Leser und die Leserin die Foucaultsche Machtperspektive akzeptieren. Denn wir lernen viel über bestimmte Bücher, Reden und gar abgehaltene Seminare, die Machtanalyse bleibt jedoch eigentümlich blind für strategisches Handeln konkret benannter kollektiver Akteure. Weder wird konkretes Regierungshandeln analysiert, noch eine umfängliche Analyse des Machtkampfes in der auch heute noch weitgehend korporatistisch strukturieren Interessenvermittlung der norwegischen Demokratie.

Grundsätzliche Kritik ist nicht an der Gegenüberstellung beider Diskurse festzumachen, sondern an der eigentümlich schwach vorgetragenen Lösung des vom Autor skizzierten Problems. Während Politik mit Macht Ver- und Gebot (in klar formulierten Grenzen) steuert, ist die Steuerung des Marktes auf (grundsätzlich grenzüberschreitende) Mechanismen von Angebot und Nachfrage, der Signalwirkung von Preisen und der möglichen Maximierung von Profit aus. Worin aber konkret die Steuerungsmittel der „grünen Transformation“ liegen könnten, dies bleibt leider weitgehend unklar. Abgesehen von der Aufforderung, uns neu nach ökologischen Gesichtspunkten über das „gute Leben“ zu verständigen, bleiben die Konturen einer angeblichen „grünen Transformation“ sehr vage, was letztlich ein schales Gefühl am Ende der Lektüre des Buches hinterlässt.

Beide hier vorgestellten Bücher widmen sich der politischen Geschichte Norwegens. Das vom Ansatz her klassische Buch von Mathilde Fasting und Øystein Sørensen ist der Leserschaft zu empfehlen, die ein einführendes Werk zur Geschichte des Landes lesen möchte, ohne allzu sehr in die methodologischen Fallstricke der Geschichtswissenschaft eingewoben zu werden. Das Buch von Svein Hammer ist für die Leser:innenschaft geeignet, die sich von der Foucaultschen Perspektive auf die Gesellschaft nicht abschrecken lässt und die Bipolarität zwischen Markt und Politik in der norwegischen Demokratie erkunden möchte (sofern sie selbstverständlich die norwegische Sprache lesen kann). Bei beiden Büchern bleiben unterm Strich viele Fragezeichen. Weder kann nach der Lektüre eindeutig bestimmt werden, ob bzw. inwiefern die norwegische Demokratie aus vergleichender Perspektive etwas Besonderes ist, noch wird deutlich, worin in Norwegen eine „grüne Transformation“ jenseits der Steuerungsmodelle von Politik und Markt zu finden wäre.